Am 11.11.22 und 10.01.23 waren Schüler:innen des Beruflichen Gymnasiums in zwei Theaterhäusern und haben sich den menschlichen Wahnsinn aus unterschiedlichen literarischen Epochen angeschaut. Die Schwerpunktthemen des Deutsch-Abiturs 2024 sind damit im doppelten Sinne zum Greifen nah.
Wie Fetzen der Erinnerung werden Szenen der zermürbenden Unterdrückung am 11.11.22 im Schauspielhaus in Hamburg gezeigt. Ein riesiges Auge mit roter Pupille starrt zwischen den Szenen das Publikum an, während in den Szenen „Woyzeck“ in einer rosaroten Gummizelle dem Wahnsinn nicht entrinnen kann. Der Täter einer Bluttat ist gleichzeitig Opfer der Gesellschaft. Eindrucksvoll inszeniert Lucia Bihler Georg Büchners „Woyzeck“ als einen Spielball der Gesellschaft und rückt im Gegensatz zu Büchners Original den Mord an einer Frau, die von Männern als Objekt genutzt wird, in den Vordergrund. Dem aktuellen Thema des Femizids wird dadurch Brisanz verliehen.
Fast zwei Monate später, am 10.01.23, sehen die Schüler:innen den Wahnsinn aus einer anderen Perspektive im Thalia-Theater Hamburg. In der „Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann entscheidet sich die Figur Nathanael immer wieder gegen einen rationalen und objektiv-sachlichen Blick auf die Welt. Dabei verliert er sich in seiner eigenen inneren Welt. Seine Welt ist im Verlauf des Stücks keine rationale mehr. Das Unbewusste tritt in den Vordergrund und damit auch sein Trauma, das ihn in den Abgrund stürzen lässt. E.T.A. Hoffmann zeigt hier die Faszination, aber auch die Zerstörungskraft des Unbewussten. Die Regisseurin Charlotte Sprenger lässt die Schübe des Wahnsinns mithilfe einer Band erklingen, die nur der Wahnsinnige hört und sieht. E.T.A. Hoffmanns auch kritische Sicht auf die Romantik wird hier deutlich, wenn eine Person wie Nathanael die phantastische Innenwelt nicht mit der realen Außenwelt in Einklang bringen kann.
Während Woyzecks Wahnsinn von anderen strukturell erzeugt ist, ist Nathanaels Wahnsinn ein zufälliger und ein selbst geschaffener. Die Zuschauer:innen stehen bei E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ mitten im Wahnsinn, während sie bei Georg Büchners „Woyzeck“ den Wahnsinn von außen beobachten. Beide Autoren bringen die Erfahrungen ihrer Zeit in die unsere.
Verfasst von den Lehrkräften Sabine Zachej und Stephanie Wiskow